ZfdA 143 (2014), S. 275-280

Mittelalter-Philologie im Internet

40. Beitrag: Ergebnisse des 'Marburger Repertoriums zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus' (MRFH)

von Christa Bertelsmeier-Kierst

I.
Das von der DFG von 2007 bis 2012 geförderte Marburger Projekt MRFH ist ein Internetportal zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus.(1) In Kurzbiographien vorgestellt und mit ihren deutschen Werken erfasst wurden sowohl Übersetzer der ersten Generation als auch Autoren der Übergangszeit bis 1500. Damit geht das MRFH bewusst über die eigentliche Epochengrenze des deutschen Frühhumanismus hinaus, weil zum einen noch der Beginn zum stärker durch die Universität geprägten Humanismus dokumentiert werden sollte, zum anderen entstehen auch nach 1480 eine Reihe von Übersetzungen, die durchaus noch als 'frühhumanistisch' bezeichnet werden können. Charakteristisch für den deutschen Frühhumanismus als Übergangsepoche ist das lange Nebeneinander von Tradition und Neubeginn, von Kontinuität und Diskontinuität.

Erfasst wurden im Zeitraum von 1450 bis 1500 insgesamt 144 Übersetzungen. Breiten Raum nimmt im MRFH ihre Überlieferungsgeschichte ein, die mit einem wichtigen mediengeschichtlichen Ereignis, der Einführung des Buchdrucks, zusammenfällt. Gerade frühhumanistische Autoren haben dem neuen Medium 'Druck' besondere Aufmerksamkeit geschenkt, z.T. waren sie selbst als Drucker oder Verleger tätig, um humanistische Schriften einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das MRFH dokumentiert erstmals umfassend die Parallelüberlieferung in Hss. wie Drucken und liefert buchgeschichtliche Daten, u.a. zu Layout und Textverbünden sowie zu Widmungsadressaten und zeitgenössischen Lesern. Entgegen dem herkömmlichen Klischee versiegt die Handschriftenproduktion nicht mit der Einführung des Buchdrucks, sondern erreicht ihren Zenit gerade im Zeitalter Gutenbergs. Dies bestätigen eindrucksvoll auch die Ergebnisse des MRFH.

II.
Die studia humanitatis beginnt in Deutschland um die Mitte des 15. Jh.s mit lateinischen Abschriften, die deutsche Studenten von ihrem Studienaufenthalt aus Italien mitbrachten. Während diese Texte zunächst in Gelehrtenkreisen zirkulieren, verbleiben die deutschsprachigen Übersetzungen in der frühen handschriftlichen Überlieferung noch vorwiegend im engeren Umfeld der Autoren und Widmungsempfänger, die vor allem dem Hochadel im deutschen Südwesten und der Dynastie der Habsburger angehören. So bezeugt Püterich von Reichertshausen für die Bibliothek der Erzherzogin Mechthild vor 1462 neben zahlreichen Werken der höfischen, insbesondere niederländisch-burgundischen Kultur, bereits Heinrich Steinhöwels 'Griseldis' (nach Petrarcas Bearbeitung von Dec. X,10) sowie 'Stadtschreibers Püechlein',(2) womit die Übertragung von Enea Silvio Piccolominis 'De duobus amantibus' durch Niklas von Wyle, Stadtschreiber in Esslingen (und später zweiter Kanzler am Württembergischen Hof), gemeint sein dürfte. Möglicherweise befand sich Wyles Übersetzung hier schon im Textverbund mit seiner zweiten und dritten Translatze, der 'Sigismunda'-Novelle (Dec. IV,1 nach der lateinischen Bearbeitung Leonardo Brunis) und Enea Silvio Piccolominis Traktat 'De remedio amoris', da sich diese Einheit schon in einer frühen Heidelberger Hs., dem vermutlich aus Mechthilds Besitz stammenden Cpg 119, nachweisen lässt (vgl. http://mrfh.online.uni-marburg.de/10370).

Wie die frühen Hinweise aus Mechthilds Bibliothek dokumentieren, werden zunächst Liebes- und Ehediskurse, vorzugsweise aus der Trecento-Literatur, die an französisch-burgundischen Höfen schon seit Beginn des 15. Jh.s breit rezipiert wurde, ins Deutsche übertragen: Petrarcas 'Griseldis' und Auszüge aus seinen 'De remediis', Einzelnovellen aus dem 'Decameron' und ab den 70er Jahren Boccaccios 'De claris mulieribus' und die Cento Nouella. Wyle bearbeitet darüber hinaus auch zeitgenössische Autoren wie Enea Silvio Piccolomini oder Poggio Bracciolini. Übersetzungen antiker Texte sind hingegen bis 1480 noch ausgesprochen selten. Insgesamt entfallen von den 144 im MRFH aufgenommenen Werken 52, also gut ein Drittel, auf Übersetzungen antiker Autoren, wobei eigenständige Übersetzungen aus dem Griechischen erst mit Reuchlin am Ende des Jahrhunderts aufscheinen. Die übrigen Übersetzungen griechischer Texte basieren auf lateinischen Vorlagen italienischer Humanisten. Schon das bedeutet gegenüber Italien eine erhebliche Verzögerung bei der Aneignung der Antike. Darüber hinaus scheinen antike Autoren in deutschen Übersetzungen, abgesehen von eigentlichen Schultexten, sehr viel zurückhaltender als die neue italienische Renaissance-Literatur aufgenommen worden zu sein. Dies kann ein Vergleich der Überlieferungszahlen in Hss. und Drucken eindrucksvoll dokumentieren.

Insgesamt wurden im MRFH 122 Hss. und 145 Inkunabelausgaben in ca. 2500 Exemplaren näher untersucht. Drucke des 16. Jh.s – insgesamt 273 Ausgaben bis 1600 – wurden nur in Kurzeinträgen (ohne Exemplarnachweise) verzeichnet. Ich beschränke mich nachfolgend auf die Inkunabelzeit. Von den ermittelten 145 Inkunabeln entfallen 46 auf Übersetzungen antiker Autoren, wobei es sich bei 19 Drucken um ausgesprochene Schultexte (Brants zweisprachiger 'Facetus' und 'Cato' sowie Leipziger Schulausgaben) handelt. Die nachfolgende Tabelle stellt die erfolgreichsten Übersetzungen aus dem Bereich der Liebes- und Eheliteratur im Vergleich zur Antike-Rezeption vor. Ausgenommen bleiben die vorhin erwähnten Schultexte:

Liebes- und Ehediskurs
Steinhöwel: ‘Griseldis’ (Dec. X,10) - 14 Drucke
Wyle: ‘Sigismunda’-Novelle (Dec. IV,1) - 12 Drucke
Albrecht von Eyb: ‘Ehebüchlein’ - 8 Drucke
Steinhöwel: ‘Apollonius’ - 7 Drucke
Wyle: ‘Eurialus und Lucretia’ - 6 Drucke
Steinhöwel: ‘Erlauchte Frauen’ - 5 Drucke

Antike-Rezeption
Steinhöwel: ‘Aesop’ - 13 Drucke (Erstdruck 1476)
Wyle: ‘Lukians Esel’ - 4 Drucke (1477, 1478, 1480, 1499)
Boethius: ‘De consolatione philosophiae’ - 2 Drucke (1473, 1500)
‘Ulmer Terenz’, gedruckt für Hans Neithart - 2 Drucke (1486, 1499)

Von den Novellen-Übertragungen erwiesen sich vor allem die frühen Adaptionen aus Boccaccios 'Decameron' 'Griseldis' (Dec. X,10) und 'Sigismunda' (Dec. IV,1) als überaus erfolgreich; von den Übersetzungen antiker Werke kommt nur der 'Aesop', den Heinrich Steinhöwel 1476 Sigmund von Tirol in einer illustrierten Prachtausgabe dedizierte, mit 13 Inkunabeln an diese Auflagendichte heran. Ebenfalls beliebt war Wyles 'Esel', seine für Eberhard von Württemberg angefertigte 13. Translatze (nach Poggios Lukian-Übertragung), die von 1477 bis 1499 viermal gedruckt wurde.

Nur zwei Auflagen bis 1500 erzielten eine anonyme Boethius-Übertragung und der 'Ulmer Terenz', den erstmals Konrad Dinckmut 1486 in Ulm, allerdings auf Kosten des Ulmer Patriziers und Bürgermeisters Hans Neithart, druckte. Mit Recht weist Peter Amelung(3) die ältere These zurück, dass sich dieser Komödiendruck bereits dem Echo der neuen Theateraufführungen in Italien (1486: erste Plautus-Aufführung am Hof von Ferrara) verdankt. Der 'Ulmer Terenz', dem als Glossen der ebenfalls übersetzte Donatkommentar beigegeben wurde, ist nicht als erheiterndes Lustspiel, sondern als didaktisches Lesestück intendiert: Darumb ain yeder [...] sich desterbas vor aller betrügnuß der bösen menschen mag hütten vnd wissen ze bewaren (Bl. aij). Dinckmuts mit 28 ganzseitigen Holzschnitten versehener Druck war übrigens die erste illustrierte Ausgabe. Erst 1493 wurden in Lyon, 1497 dann in Venedig illustrierte Ausgaben verlegt.

Nur eine Auflage bis 1500 erreichten hingegen Übersetzungen der 'Cosmographia' des Ptolemaeus (Nürnberg, um 1493) oder Vegetius' 'De re militari', die Ludwig Hohenwang 1475 für den schwäbischen Grafen Johann II. von Lupfen anfertigte. Auch Wyles 'Reden athenischer Räte', seine siebte Translatze, die er Jörg Rott, dem Kämmerer Mechthilds von der Pfalz, widmete, wurde nur einmal innerhalb der 'Translationen' verlegt, die Wyle als OEuvre-Sammlung 1478 bei Konrad Fyner in Esslingen in Auftrag gab.

Prüft man, welche antiken Autoren in deutschen Übertragungen vor 1500 in den Druck gelangten, so handelt es sich in den meisten Fällen nicht um humanistische Neuentdeckungen, sondern vorrangig um Autoren, die über den Schulkanon oder die christliche Moralphilosophie während des gesamten Mittelalters beliebt waren. Diesen steht eine Fülle von Übersetzungen antiker Autoren gegenüber, die nur handschriftlich tradiert wurden oder sogar verschollen sind:

Drei Hss. überliefern Konrad Humerys Boethius-Bearbeitung, während Wyles Boethius-Übersetzung als verschollen gilt. Nur als Widmungsexemplar erhalten ist die Columella-Übersetzung 'Über den Landbau', die Heinrich Österreicher 1491 auf Wunsch Eberhards von Württemberg anfertigte. Auch Reuchlins Übersetzungen, sowohl Lukians zwölftes Totengespräch und die Olyntische Rede, die er 1495 ebenfalls für Eberhard anlässlich dessen Erhebung in den Herzogsstand verfasste, als auch seine Cicero-Übertragung 'Tusculanae disputationes', die er im Auftrag des Kurfürsten Philipp von der Pfalz schrieb, gelangten nicht zum Druck. Seine 'Orationes Philippica' und der dritte Gesang aus der 'Ilias' sind verschollen. Von den 19 Übersetzungen, die Johann Gottfried zwischen 1489 und 1494 für Friedrich von Dalberg, den Bruder des kurpfälzischen Kanzlers und Bischofs von Worms, Johann von Dalberg, anfertigte, rezipieren die allermeisten antike Autoren (u.a. Cicero, Livius, Lukian, Rufus, Isokrates); auch sie sind nur handschriftlich überliefert, zwei gelten als verschollen. Nicht viel besser ist es um 1500 den Werken Johann Sieders, Sekretär des Würzburger Bischofs und Kanoniker des dortigen Neumünsters, ergangen. Nur seine Apuleius-Übertragung vom 'Gulden Esel' hat posthum 1538 sein Bruder drucken lassen. Johann Sieder fertigte diese Übersetzung im Jahre 1500 für Johann von Dalberg gemeinsam mit der Verdeutschung von Lukians 'Verae historiae' an. Auch seine Plutarch Übertragung, die er 1502 an Kaiser Maximilian I. adressierte, ist nur unikal im Widmungsexemplar erhalten geblieben. Seine übrigen Werke, so übersetzte er noch Flavius Josephus, Plinius, Eusebius, Laktanz und Cicero, sind verschollen.

Betrachtet man diese Überlieferungszahlen, so erweist sich das Schlagwort von der 'iederentdeckung der Antike', das gewöhnlich mit der Ausbreitung des Humanismus verbunden wird, zumindest für die Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus als irreführend. Denn von einer breiteren Öffentlichkeit kann bei der Antike-Rezeption bis 1500 keine Rede sein. Durch den Buchdruck verbreitet wurden vor allem diejenigen Autoren, die – wie Boethius, Terenz oder Aesop – bereits im Mittelalter als moralische Autoritäten anerkannt und geschätzt waren. In einem von Kriegen, sozialen Unruhen und Seuchen heimgesuchten Zeitalter sollte die deutschsprachige Literatur vor allem Trost sowie normative Richtlinien und Handlungsmuster vermitteln; diesem Ziel diente auch das antike Weisheitspotential, das man in den Werken römischer und griechischer Autoren fand.

Demgegenüber lassen sich antike Texte, die erst im Humanismus wiederentdeckt wurden, oftmals nur in handschriftlichen Widmungsexemplaren nachweisen, wobei der Adressat zumeist auch der Auftraggeber der Übersetzung war. Entgegen dem vielfach betonten 'bürgerlichen Publikum' überrascht zudem die große Zahl fürstlicher Adressaten, die man sowohl für die aus Italien herübergeführte Renaissance-Dichtung als auch für die frühe Antike-Rezeption bis 1500 festhalten muss. Erst im 16. Jh. scheint sich hier ein Wandel der Leserschichten anzubahnen. So wird die Übersetzung von Livius' 'Römischer Historie', die der am Württembergischen Hofgericht und als Rat Herzog Eberhards tätige Bernhard Schöfferlin verfasste, erst posthum von Ivo Wittich 1505 mit einer Widmung an Maximilian I. herausgegeben. Eybs Übersetzungen von zwei Plautus-Komödien, 'Bacchides' und 'Menaechmi', die Poggio Bracciolini im 15. Jh. wiederentdeckt hatte, wurden erst nach Albrechts Tod 1511 veröffentlicht. Auch das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Verzögerung, mit der antike Texte breiteren Leserschichten in Deutschland zugänglich wurden.

III.
Wichtige Ergebnisse liefert das MRFH auch zur Publikumssoziologie der Inkunabelzeit. Biographisch erfasst wurden insgesamt 266 Personen; davon 32 Widmungsempfänger bzw. -empfängerinnen, von denen 20 noch der unmittelbaren Sphäre der großen geistlichen oder weltlichen Höfe angehören (vgl. http://mrfh.online.uni-marburg.de/adressaten). An zeitgenössischen Besitzern konnten 160 näher identifiziert werden, wobei sich für die Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus die Leserschichten hinsichtlich Hs. und Druck noch kaum unterscheiden. Auch Inkunabelbesitzer lassen sich oftmals dem persönlichen Lebensraum des Übersetzers oder dem adligen Widmungsadressaten zuweisen. Neben Angehörigen des Hofes und des umgebenden Landadels sind es besonders Ratsfamilien, also die städtische Führungselite, die als Besitzer frühhumanistischer Übersetzungen in Erscheinung treten (vgl. http://mrfh.online.uni-marburg.de/besitzer).

So ließen sich als Besitzer für Wyles Erstdruck der 'Translationen' (1478) ermitteln: der zum inneren Rat zählende Jacob Schellang aus Ravensburg, der Nürnberger Arzt und Humanist Hartmann Schedel sowie die in Habsburgischen Diensten stehenden Konrad Seusenhofer, röm. kays. Majestät harnaschmaister zuo ynnsprugg, Johannes Yseregk, Gesandter und Bergrichter Herzogs Sigmunds in Salzburg, sowie Caspar Lachsenfelder, Kammermeister Herzog Sigmunds und Kaiser Maximilians I. (vgl. http://mrfh.online.uni-marburg.de/21510).

Vor dem Hintergrund, dass sich das deutschsprachige Inkunabel-Publikum noch vorrangig am literarischen Geschmack des Hochadels orientierte, wird auch das hohe Ausstattungsniveau der gedruckten Ausgaben frühhumanistischer Übersetzungen verständlich. Nirgends in Europa wurden antike und humanistische Autoren so früh in illustrierten Drucken bereitgestellt wie in Deutschland. Man denke nur an Steinhöwels 'Aesop', Hohenwangs 'Kriegsbuch' oder den 'Ulmer Terenz'; aber auch illustrierte Ausgaben von Boccaccios 'De claris mulieribus' und dem 'Decameron' werden zuerst in Deutschland und dann erst in Italien und Frankreich gedruckt.

Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Ergebnisse des MRFH mit weiteren Beobachtungen zur deutschsprachigen Literatur im 15. Jh. in Beziehung setzen lassen. Als Nachfolgeprojekte sind im Rahmen der Marburger Repertorien geplant: 'Erzählen in Prosa. Zur Entwicklung des Prosaromans im 15. Jh.' (Mittel bei der DFG beantragt). Angedacht ist ferner als ergänzendes Parallelprojekt 'Erzählen in Versen', das den Bereich narrativer Großformen für das 15. Jh. komplementieren soll.

Prof. Dr. Christa Bertelsmeier-Kierst, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich 09 Germanistik und Kunstwissenschaften, Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters, Wilhelm-Röpke-
Str. 6A, D–35032 Marburg
E-Mail: bertelsm@staff.uni-marburg.de

Anmerkungen:

  1. Zugang zur Online-Datenbank des Projekts über: http://www.mrfh.de.
  2. Der Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen, hg. von Fritz Behrend und Rudolf Wolkan, Weimar 1928, S. 26 (Nr. 98); Klaus Grubmüller, Jakob Püterich von Reichertshausen: der Ehrenbrief. Cgm 9220 (Patrimonia 154), München 1999, S. 34.
  3. Peter Amelung, Konrad Dinckmut, der Drucker des Ulmer Terenz. Kommentar zum Faksimiledurck 1970 von Peter Amelung, Zürich 1972, S. 32.
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