ZfdA 131 (2002), S. 139-141

Mittelalter-Philologie im Internet

10. Beitrag: Verzeichnis der Handschriftenfragmente der Universitätsbibliothek Salzburg

von Beatrix Koll

Je weiter wir den Weg in die Vergangenheit zurückgehen, desto diffuser wird unser Bild von dem, was einst Alltag war, was gelesen und geschrieben wurde und was zum Kanon des Wissens gehörte. Jeder Splitter an neuer Erkenntnis hilft, dieses Bild besser und richtiger zu rekonstruieren und zu interpretieren. Fragmente aus Handschriften können solche Splitter sein. Sie waren einmal Teil eines vollständigen Buches, einer ganzen Bibliothek, also ein Mosaikstein eines Wissensgefüges. Manchmal dokumentieren nur noch Fragmente die Existenz bestimmter Werke.

Die Feststellung von Provenienz und Datierung zählt zu den wichtigsten Aufgaben des Kodikologen, Aufgaben, die auch bei vollständig erhaltenen Handschriften nicht immer leicht zu bewältigen sind. Ungleich schwieriger gestaltet sich die Identifizierung von Fragmenten hinsichtlich Datierung, Herkunft und Inhalt, da sie ihrer unmittelbaren (Text-)Umgebung und vieler sie charakterisierenden Merkmale beraubt sind. Geschlossene, aus der Tradition gewachsene Sammlungen, wie wir sie in Klosterbibliotheken Österreichs vorfinden können, erleichtern die Forschungsarbeit in mancher Hinsicht: Zum einen kann die Zuordnung eines Handschriftenfragmentes zu einem bestimmten Skriptorium im Vergleich mit dem erhaltenen Bestand versucht werden, zum anderen darf man auch bei kleineren Klöstern eine eigene Buchbinderwerkstätte voraussetzen(1), die nicht mehr aktuelle Texte aus dem eigenen Bestand als Einbandmakulatur verwendete. Damit hat man zwar noch keinen letztgültigen Hinweis zur Entstehung gewonnen, man weiß aber immerhin, wo sich dieses Buch einige Zeit 'aufgehalten' hat.

Anders verhält es sich mit Buchbindereien in Städten, die gegen Bezahlung arbeiteten und auch Fragmente ankauften. Gedruckte Bücher der Inkunabelzeit, aber auch der folgenden Jahrhunderte, wurden ohne Einband gehandelt. Der Besitzer sorgte für den Einband und gab meist dem lokalen Buchbinder den entsprechenden Auftrag zur Anfertigung der Einbanddecke. Kann man die Geschichte eines Buches anhand der Vorbesitzer rekonstruieren, sind auch vorsichtige Aussagen zur Herkunft der verwendeten Handschriftenfragmente möglich.

Je heterogener der Altbuchbestand einer Bibliothek ist, umso aufwendiger, aber auch reizvoller gestaltet sich die Forschungsarbeit am vorhandenen Fragmentenmaterial. Folgendes läßt sich über den Bestand der Universitätsbibliothek Salzburg festhalten:

Nach der Gründung der Universität Salzburg 1622 durch Erzbischof Paris Graf Lodron war eine umfangreiche Bibliothek unerläßlich(2). Der über die Jahrhunderte gewachsene Bestand ist heterogen: Handschriften und Drucke gelangten aus der Erzbischöflichen Hofbibliothek, aus der Bibliothek der Fürstpropstei Berchtesgaden, aus der Bibliothek der Bischöfe von Chiemsee, des Augustiner-Eremiten-Klosters Mülln und des Theatinerklosters an die Universitätsbibliothek. Das wichtigste Ereignis jedoch war der Ankauf der Bibliothek des Juristen Christoph Besold im Jahr 1649: Über 3800 Bände - davon ungleich mehr Drucke als Handschriften - sind mit seinem charakteristischen Besitzervermerk versehen. Viele seiner Bücher haben einen Einband aus Handschriftenmakulatur; für die Gruppe der hebräischen Handschriftenfragmente ist bereits eine Zuordnung zu einer Buchbinderwerkstatt in Ingolstadt aus dem 1. Drittel des 17. Jahrhunderts gelungen(3). Die in situ befindlichen Fragmente erleichtern die Forschungsarbeit ein wenig, da der jeweilige Trägercodex durch entsprechende Vermerke Auskunft gibt über Vorbesitzer und indirekt auch über Zeitraum und Ort der Makulierung von Handschriften für den Einband.

Nur eine geringe Anzahl an Fragmenten (59) wurde vom Trägercodex abgelöst und unter eigener Signatur(4) aufgestellt. Davon datiert das älteste Fragment aus dem 7./8. Jahrhundert, das jüngste aus dem 15. Jahrhundert. Aus der großen Fülle der Fragmente in situ ist derzeit nur ein geringer Prozentsatz aufgearbeitet, so daß Aussagen über Buchbinderwerkstätten und mögliche Provenienz der Handschriftenmakulatur noch verfrüht erscheinen. Schwierigkeiten treten auch immer wieder bei der Identifizierung von Texten auf, trotz wertvoller Hilfsmittel auf CD-ROM,(5) die viele Arbeitsschritte erleichtern, aber das Wissen des Bearbeiters nicht überflüssig machen.

Hier eröffnet sich nun der Sinn eines Fragmentenverzeichnisses, das online zugänglich ist und theoretisch jedem Interessierten weltweit, sofern er nur über einen Internetzugang verfügt, offen steht. Quellenmaterial und Forschungsergebnisse können rasch eingesehen und vor allem ständig aktualisiert werden: Das dynamische Moment dieser Dokumente erlaubt es, neue Erkenntnisse sofort zugänglich zu machen. Gerade durch den ungehinderten Zugang zum Forschungsmaterial darf man sich einen regen Wissensaustausch zwischen Bearbeiter(inne)n der Primärquellen und den verschiedenen Forschungsrichtungen erhoffen. Das Internet bietet die Möglichkeit, Hilfestellung zu leisten bei der Identifikation von Texten, Zuordnung zu Skriptorien und schließlich bei der Zusammenführung von oft weit verstreuten Fragmenten.

Die Universitätsbibliothek Salzburg hat als erste bibliothekarische Institution Österreichs das Projekt einer über das Internet zugänglichen systematischen Erfassung des Fragmentbestandes in Angriff genommen. Dem Benützer erschließt sich unter der Adresse http://www.ubs.sbg.ac.at/sosa/fragmente/handschriftenfragmente.htm das Verzeichnis der Handschriftenfragmente in vier Indices: Die Aufgliederung erfolgt nach den Kategorien "Entstehungszeit", "Sprache", "Werkregister" und "Signaturen". Die einzelnen Katalogisate enthalten neben Angabe von Signatur, Autor bzw. Titel des Werkes und Datierung Beschreibungen von Trägercodex (wenn vorhanden), Schrift und Buchschmuck. Jedem Katalogisat ist eine Abbildung beigefügt, da rein verbale Beschreibungen niemals den visuellen Eindruck, der beim Vergleich von Fragmenten unabdingbar ist, ersetzen können. Die deutschsprachigen Handschriftenfragmente sind auch über die 'Marburger Repertorien' (http://www.marburger-repertorien.de/) in der Rubrik 'Handschriftenabbildungen. Deutschsprachige Handschriften des Mittelalters im Internet' einzusehen.

Meine Arbeit versteht sich als opus in statu nascendi. Ich hoffe, mit diesem Verzeichnis den Zugang zu Primärquellen zu erleichtern und 'im Gegenzug' neue Erkenntnisse aus den verschiedensten Forschungsgebieten zu erhalten. Denn gerade ein(e) Handschriftenbearbeiter(in) muß sich hin und wieder eingestehen: Scio me nihil scire ...

Mag. Beatrix Koll, Universitätsbibliothek Salzburg, Abteilung für Sondersammlungen, Hofstallgasse 2-4, A-5020 Salzburg
E-Mail: Beatrix.Koll@sbg.ac.at

Anmerkungen:

  1. Für das Benediktinerkloster Michaelbeuern z.B. vgl. B. KOLL, Katalog der Handschriften des Bendiktinerstiftes Michaelbeuern bis 1600 (Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters II,6 = Denkschriften der phil.-hist. Klasse der ÖAW 278), Wien 2000, S. 10 und 16.
  2. Zum Folgenden vgl. A. JUNGREITHMAYR, Die Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Salzburg, Diss. masch., Salzburg 1986, S. 13-78.
  3. Vgl. CH. GLASSNER, Hebräische Fragmente in der Universitätsbibliothek Salzburg, Wien 1995, S. 63-64.
  4. Alle Signaturen, die mit "M" beginnen, verweisen auf eine Handschriftensignatur, für die Fragmente in situ wurden die jeweiligen Buchsignaturen - "W" für Wiegendruck, "F" für Frühdruck, "R" für Rarum, "G" für Graphik sowie Numerus currens für den übrigen Bestand - übernommen.
  5. Besonders J. P. MIGNE, Patrologia Latina database, 1993-1995, und Cetedoc library of Christian Latin texts, 4. ed. 2000.
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