ZfdA 131 (2002), S. 547-550

Mittelalter-Philologie im Internet

15. Beitrag: Handschriftenarchiv online

von Jürgen Wolf

Die wissenschaftliche Erschließung mittelalterlicher Handschriften gehört seit den sechziger Jahren zu den zentralen Förderungsobjekten der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Idee einer umfassenden Erschließung sämtlicher mittelalterlicher - vorzugsweise deutscher - Handschriften ist jedoch wesentlich älter und geht in ihrem umfassendsten Ansatz auf eine Initiative der 'Deutschen Kommission' der 'Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin' zurück. Im Jahr 1904 begann man dort mit der Anlage eines Archivs von Beschreibungen deutschsprachiger Handschriften in Bibliotheken des In- und Auslandes.(1) Ziel war es, neben den Texten - zu diesem Zweck wurden parallel die 'Deutschen Texte des Mittelalters' (DTM-Editionen; vgl. http://www.bbaw.de/forschung/dtm/pub.html) ins Leben gerufen - auch die Realien vollständig in Autopsie zu erfassen bzw. zugänglich zu machen. Initiatoren des Projekts waren die Philologen KONRAD BURDACH, GUSTAV ROETHE und ERICH SCHMIDT. Von 1904(2) bis 1944 entstanden in Autopsie 19319 Beschreibungen von 18847 Handschriften und Fragmenten, die vorzugsweise deutschsprachig sind bzw. deutschsprachige Passagen enthalten. Sporadisch wurden zudem einige Inkunabeln (oft wenn sie volkssprachliche Einbandmakulatur oder Einträge enthalten) sowie separat beschriebene Bucheinbände und Wasserzeichen aufgenommen. Das vorgeschlagene Stichjahr 1520 wurde im Laufe des Projekts phasenweise bis ins 17. Jahrhundert ausgedehnt.

Die jetzt im Internet über eine Orts-/Signaturenliste vollständig erfaßten Beschreibungen berücksichtigen die Bestände aus rund 600 Bibliotheken, Archiven und privaten Sammlungen in über 350 Orten der (heutigen) Länder Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Lettland, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rußland, Schweden, Schweiz, Slowakei, Tschechien, Ungarn, USA. Die (zur Zeit nur in Auswahl im Netz zugänglichen) Beschreibungen enthalten in der Regel die genaue (historische) Signatur der Handschrift, Angaben zur Herkunft, zum Material und Zustand, zum Charakter der Schrift, zur Blattzahl und Zählung, zum Format, zur Einrichtung, zur Ausstattung und zum Einband sowie eine Auflistung aller Inhalte mit Blattangabe, Incipit und Explicit. Außerdem sind Überschriften, Initialen, Marginalien, Kolophone, Einträge, Benutzerspuren etc. nachgewiesen und häufig sogar nachgezeichnet. Kleinere Textstücke bis zu ca. 20 Zeilen sind, wenn noch ungedruckt, meist ganz abgeschrieben. Bei Papierhandschriften werden zudem in vielen Fällen die Wasserzeichen als Durchzeichnung (in Originalgröße) geboten. In ihrer Beschreibungstiefe reichen die Beschreibungen im Normalfall an die modernen DFG-Kataloge heran, deren Richtlinien sich ja ihrerseits an den bereits 1904 entwickelten 'Grundsätzen' und 'Richtlinien' des Handschriftenarchivs orientieren. In den 60er Jahren dienten genau diese 'Grundsätze' als Muster für die 'Richtlinien zur Handschriftenkatalogisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft' - in dieser Form zuerst veröffentlicht in dem 1963 erschienenen Sonderheft 'Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften' der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Die 'Grundsätze' und 'Richtlinien' des Handschriftenarchivs markieren damit den Beginn der modernen Handschriftenkunde für die Germanistik.

Publiziert wurden die Arbeitsergebnisse des Archivs eher selten. Am bekanntesten dürften der Prager Katalog von WALTHER DOLCH (1909) und der Wiener Katalog von HERMANN MENHARDT (1960/61) sein. Häufiger wurden die Archivbeschreibungen in nicht direkt von der Akademie verantworteten Publikationen ausgewertet. Dies gilt z.B. für die Reiseberichte von CONRAD BORCHLING (1898-1913); sie sind weitgehend identisch mit seinen Archivbeschreibungen.

Um ein einheitlich hohes Niveau der Beschreibungen zu gewährleisten, boten die publizierten 'Grundsätze' und 'Richtlinien' ein feinmaschiges Netz verbindlicher Beschreibungsrichtlinien. Außerdem händigte man allen Beschreibern eine 1904 von GUSTAV ROETHE angefertigte und bis 1944 in vielfacher, z.T. leicht revidierter Auflage gedruckte Probebeschreibung djavascript:void(0)er Berliner Tristan-Handschrift Ms. Germ. 4°, 284 als Muster aus (http://www.bbaw.de/forschung/dtm/HSA/ROETHE.htm). Die Umsetzung der Vorgaben wurde in der Berliner Akademie bei jedem Einzelstück geprüft. Dennoch blieb die unterschiedliche Qualität der Beschreibungen ein latentes Problem. Neben den hervorragenden Arbeiten ausgewiesener Philologen und Handschriftenbibliothekare wie BORCHLING, BURDACH, BUTZMANN, DEGERING, EIS, HENRICI, MENHARDT, NIEWÖHNER, PETZET, ROETHE, SCHMIDT oder VOGTHERR galten den Initiatoren und Betreuern des Handschriftenarchivs vor allem die Beschreibungen der 'Schulmänner', die vielfach vor Ort entlegenere Bestände aufnahmen, als problematisch. Trotz genauester Vorgaben in den 'Grundsätzen' und einer konsequenten Überprüfung aller eingereichten Beschreibungen an der Akademie in Berlin konnte dieses Problem nie vollends gelöst werden. Hier wird das im Aufbau befindliche Online-Verzeichnis der Bearbeiter (http://www.bbaw.de/forschung/dtm/HSA/Bearbeiter.htm) deshalb in Zukunft nicht nur alle Bearbeiter auflisten, sondern auch kurze Hinweise zur generellen Qualität ihrer Beschreibungen bieten.

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Arbeiten nicht wieder aufgenommen. In den 50er bis frühen 70er Jahren fertigten nur noch wenige Bearbeiter gleichsam in Privatinitiative einzelne Ergänzungen an. In der alten Bundesrepublik traten an die Stelle des Handschriftenarchivs die modernen, von der DFG geförderten Katalogisierungsprojekte. In der DDR wurden einzelne Vorhaben im Rahmen des 'Zentralinventars mittelalterlicher Handschriften bis 1500 in den Sammlungen der DDR' (ZIH) durchgeführt, andere (etwa die Kataloge zu Dessau, Jena, Leipzig und Weimar von FRANZJOSEF PENSEL) entstanden unter dem Dach des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft(3) der nun als 'Akademie der Wissenschaften der DDR' firmierenden ehemals Preußischen Akademie.

Mit den modernen Katalogen wurde das Material des Handschriftenarchivs jedoch keinesfalls wertlos. Da die Beschreibungen bis 1944 erstellt wurden, sind sie in etlichen Fällen der letzte qualifizierte Nachweis heute verschollener oder vernichteter Handschriften (ca. 2500 Beschreibungen). Erhebliche Teile betreffen zudem schlecht, unvollständig oder noch völlig unerschlossene Bestände (ca. 3500 Beschreibungen, insbesondere Streubesitz). Und auch bei den durch moderne Kataloge oder Inventare aufgearbeiteten Beständen (ca. 13000 Beschreibungen) bieten die Archivbeschreibungen neben wissenschaftshistorischen Aspekten vielfach wichtige Zusatzinformationen bis hin zu Durchreibungen bzw. -zeichnungen von Wasserzeichen und Einbänden sowie Komplett-Transkriptionen von Einträgen, Marginalien und kleineren Texten. Der wissenschaftliche Wert der Archivbeschreibungen ist vor allem dort besonders hoch zu veranschlagen, wo nur Kurzkataloge (z.B. DEGERING zu Berlin) oder Inventare (z.B. Handschriftencensus Nordrhein-Westfalen) vorliegen.

Ein Problem bleibt der qualifizierte Zugang zu den breit gefächerten Informationen des Handschriftenarchivs, denn während die Beschreibungen über die Wirren des Krieges gerettet werden konnten, verbrannten bei Kriegsende die mit großem Aufwand erstellten Register (ca. eine Million Katalogzettel). Der Zugang zu den einzelnen Beschreibungen ist heute nur über die historischen Signaturen möglich, und selbst die sind nur wenigen Eingeweihten bekannt bzw. konnten über Publikationen eher zufällig erschlossen werden.

Um den Beschreibungsfundus wieder großflächig zu erschließen, wurden in einem von der DFG geförderten Projekt zwischen 1992 und 1999 zu einem Teil der besonders wichtigen Beschreibungen zu verlorenen und verschollenen Beständen (ca. 2000) Kreuz- und Initienregister samt Signaturenlisten erstellt. Die Register waren zunächst nur über DBI-Link(4) zugänglich und können jetzt bequem über Manuscripta Mediaevalia (http://www.manuscripta-mediaevalia.de) genutzt werden. Üblicherweise führte das Suchresultat mit seinen registertypischen Kurzinformationen zu einer persönlichen Anfrage im Handschriftenarchiv der BBAW.

In Zukunft sollen die Benutzer alle Informationen des Handschriftenarchivs samt den komplett digitalisierten Beschreibungen sowohl über das Internetportal des Handschriftenarchivs (DTM) als auch über Manuscripta Mediaevalia kostenfrei online abrufen können. Für die große Masse der Beschreibungen im Umfang von insgesamt ca. 150000 Blatt kann ein solcher Vollservice jedoch nur im größeren Rahmen eines (beantragten) DFG-Projekts verwirklicht werden. Neben den digitalisierten Archivbeschreibungen wird die Internet-Datenbank in ihrer vollständigen Version folgende Informationsangebote bieten:

- eine Signaturenliste aller vorhandenen Beschreibungen (bereits zugänglich),
- eine Signaturenkonkordanz, die die historischen, d.h. früheren Signaturen der Handschriften mit den modernen Signaturen verbindet (im Aufbau),
- einen Nachweis des modernen Bestandsstatus,
- ein qualifizierendes Verzeichnis der Bearbeiter (im Aufbau),
- einen Abgleich der Bestände des Handschriftenarchivs mit den seit 1945 erschienenen in- und ausländischen Katalogen,
- Detailinformationen zu allen rund 6000 verschollenen, verlorenen und unzugänglichen Handschriften, die über Beschreibungen des Handschriftenarchivs erschlossen sind. Das gesamte Informationspotential wird über Manuscripta Mediaevalia recherchierbar sein.

Das Projekt 'Handschriftenarchiv online' der DTM versteht sich damit einerseits als Ergänzung des bestehenden DFG-Handschriftenprogramms, dessen Datenbasis mit den auf dem Internetserver der BBAW frei zugänglichen digitalisierten Archivbeschreibungen deutlich erweitert werden kann. Andererseits wird es als Plattform für die weiteren Vorhaben des im Aufbau befindlichen Elektronischen Handschriftenzentrums (EHZ) der DTM dienen.(5)

Nutzungshinweise:
Der kostenfreie Zugang erfolgt direkt über das Internetportal der Arbeitsstelle 'Deutsche Texte des Mittelalters' an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (http://www.bbaw.de/forschung/dtm/HSA/startseite-handschriftenarchiv.htm) oder indirekt über Manuscripta Mediaevalia.

Beim Direktzugang über die DTM sind die Digitalisate und alle begleitenden Informationen über horizontal und hierarchisch gegliederte Navigationsleisten abrufbar. Der Zugang via Manuscripta Mediaevalia erfolgt über Suchmasken. Eine vernetzte Link-Struktur verbindet die Suchergebnisse in Manuscripta Mediaevalia (bisher ausschließlich Registereinträge und Bestandshinweise) automatisch mit den Informationen und Digitalisaten des 'Handschriftenarchivs online'.

Anfragen, Rückfragen, Ergänzungen, Aktualisierungen, Bestellungen usw. sind schon heute im unmittelbaren elektronischen Dialog über eine E-Mail-Hotline (wolf@bbaw.de) möglich.

Dr. Jürgen Wolf, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutsche Texte des Mittelalters, Jägerstr. 22/23, D-10117 Berlin
E-Mail: wolf@bbaw.de (zugleich E-Mail-Hotline von 'Handschriftenarchiv online')

Anmerkungen:

  1. Zur Bewilligung Ende 1903 vgl. Centralblatt für Bibliothekswesen 21 (1904) 77.
  2. Ein erster Vorläufer der zukünftigen Beschreibungen wurde im Dezember des Jahres 1897 durch CONRAD BORCHLING angefertigt.
  3. Das Zentralinstitut für Sprachwissenschaft betreute bis zu seiner Auflösung 1991 auch das Handschriftenarchiv.
  4. Der Zugang zu DBI-Link erfordert einiges Geschick. Zunächst muß man auf der Startseite mittels "Click here to try again" den Zugang zur Startseite erklicken. Anschließend ist "guest" anzuklicken und auf der nächsten Seite der Link "Handschriften des Mittelalters". Für die Nutzung der dann erreichten Suchmaske empfiehlt es sich, die Einführung von KLAUS GRAF (auf der Seite http://www.uni-koblenz.de/~graf/hsslink.htm) zu konsultieren. Wesentlich einfacher sind alle dort gespeicherten Informationen über Manuscripta Mediaevalia erreichbar (http://www.manuscripta-mediaevalia.de/).
  5. K. GÄRTNER, Die EDV als Werkzeug und Medium in den Deutschen Texten des Mittelalters, in: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2002 (im Druck).
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